Sonja Gruber/APA
Fußball/EM/EURO 2008/Österreich/Schweiz
Utl.: Wissenschafter: Ballsport in der Dritten Welt
ist "moderneSklaverei"
Wien (APA) - Im Juni werden Massen begeisterter Ballsportfans nach Österreich
und in die Schweiz pilgern: Die EURO 2008 wird ein euphorisierendes
Großspektakel. Millionen werden von Spannung und Emotionen ergriffen werden.
Das Spiel mit dem runden Leder hat aber auch eine hässliche Fratze, sagte
Universitätsdozent Jerome Segal vom Wiener Interdisciplinary
Centre for Comparative
Research in the Social Sciences (ICCR) im APA-Interview. Rassismus und Homophobie
im Stadion sind gang und gäbe, in Afrika und Lateinamerika wird Fußball als
Mittel der Sozialkontrolle eingesetzt und Doping gehört ebenso dazu wie Hooliganismus.
"Das erste, was ein Diktator macht, ist, ein Fußballstadion zu bauen und
die Nationalmannschaft zu unterstützen", so der Wissenschaftshistoriker. Im
Nationalsozialismus etwa war die Fußballmannschaft eine der ersten
Organisationen, die die freiwillige Gleichschaltung eingeführt und alles nach
"Führerprinzip" ausgerichtet hat. Bei der WM 1978 in Argentinien, das
damals von der Militärjunta Jorge Rafael Videlas
regiert wurde, habe man weitgehend außer Acht gelassen, dass in denselben
Stadien, in denen gespielt wurde, auch Oppositionelle gefoltert wurden.
In vielen lateinamerikanischen und afrikanischen Ländern werden Kinder mittels
Fußball bei der Stange gehalten, indem man die Illusion, durch Sport könne man
den Weg aus dem Ghetto schaffen, aufrechterhalte. "Gibt man den Menschen
einen Lederball, planen sie keine Aufstände und werden politisch nicht
aktiv", erläuterte Segal die Strategie der Obrigkeiten. Die Chance aber,
ein Star wie Ronaldinho zu werden, der tatsächlich
aus den brasilianischen Favelas stammt, sei
verschwindend gering.
Dennoch sei der Markt in vielen Ländern der Dritten Welt riesig: So gibt es in
der Elfenbeinküste eine von Niederländern organisierte Fußballschule, die
einmal im Jahr von internationalen Clubs besucht wird, um Nachwuchsspieler zu
akquirieren. Das ganze Leben der Buben sei darauf ausgerichtet, auserwählt zu
werden, um nach Europa zu kommen. Meist schaffen es nur einzelne, vergangenes
Jahr gab es keinen einzigen. "Es handelt sich hier um reine Ausbeutung vom
Süden durch den Norden", konstatierte Segal. Dieses Trugbild werde auch
von Kampagnen internationaler Konzerne gestützt und diene letztendlich nur dem
Aufrechterhalten des Systems. Der Wissenschafter sprach in diesem Zusammenhang
von moderner Sklaverei.
(Forts.) snu/gu
Fußball/EM/EURO 2008/Österreich/Schweiz
EURO 2008 - Fußball, die emotionale Seuche 2 - Rassismus
und Gewalt
Utl.: Auch Homophobie und Doping immer wieder im
Mittelpunkt Wien/APA
Eine weitere dunkle Seite des Fußballs sei der Hooliganismus,
der laut Jerome Segal vom Wiener Interdisciplinary
Centre for Comparative
Research in the Social Sciences (ICCR) aus zwei Gründen zu diesem Massensport
gehöre: So können sich Fans zwar nicht mit der Mannschaft aus ihrer Stadt
positiv identifizieren, weil die lokale Bindung zu ihr nicht mehr wie früher
vorhanden ist. Es komme aber oft zu einer negativen Identifikation mit
Anhängern des gegnerischen Teams. "Viele Fans wissen nicht, wofür sie
stehen, sehr wohl aber, dass sie einen gemeinsamen Gegner haben", erklärte
Segal.
Den zweiten Grund für die Gewaltbereitschaft einiger Ballnarren ortete Segal in
den Spielregeln. Wegen des (theoretischen) Gewaltverbots im Fußball seien
manche enttäuscht und sehen sich so gezwungen, ihre Aggressionen untereinander
auszulassen - ähnlich wie bei den Gladiatoren in der Antike, die sich ebenfalls
nicht körperlich angreifen durften. Im Gegensatz dazu gebe es im Rugby, wo
Gewalt unter den Spielern erlaubt ist, fast keine Ausschreitungen.
Fußball diene weiters als Instrument, Rassismus und Homophobie weitgehend
ungestraft auszuleben. Viele Anhänger des Ballsports hegen eine extreme
Feindschaft gegen Homosexuelle, wie diverse Beschimpfungen von Spielern als
"schwul" zeigen. Andererseits aber umarmen sich männliche Fans bei
einem Tor ihrer Elf inniger als außerhalb des Stadions üblich und auch die
Kicker zeigen sich von ihrer schwächsten Seite, wenn sie sich jammernd und
krächzend am Rasen wälzen, um einer Strafe zu entgehen. Dieses ambivalente
Verhalten in Sachen "Männlichkeit" könne durchaus eine Kompensation
von Homophobie sein, meinte Segal.
Ebenfalls wenig geahndet werde Rassismus, der im Fußballbereich gang und gäbe
ist. In Frankreich beispielsweise werden schwarze Spieler oftmals vom Publikum
ob ihrer Hautfarbe beschimpft, dem (schwarzen) Torhüter von Olympique
Marseille wurden sogar mehrmals Bananen vor die Füße geworfen und Kommentatoren
verwenden nicht selten typisch rassistische Beschreibungsmuster wie "er
tanzt mit dem Ball" für Kicker afrikanischer Herkunft. Ein derartiges
Verhalten ziehe meist keine Konsequenzen nach sich - obwohl französische
Schiedsrichter seit 2007 dazu angewiesen sind, das Spiel bei rassistischem
Verhalten im Stadion zu beenden.
Aufgrund zahlreicher verbaler und physischer Attacken rund um das nicht selten von
Kinderhand genähte runde Leder könne Fußball "ganz und gar nicht" als
Nationen vereinend bezeichnet werden. Dass berühmte Kicker wie Zinedine Zidane oder Fabio Cannavaro unter Dopingverdacht gestanden sind, werde
genauso ignoriert wie Homophobie, Rassismus und Hooliganismus
- "um das Märchen nicht zu verderben", wie Segal konstatierte.
(S E R V I C E - Mehr Infos zu den Vorträgen im März und April unter: http://www.ump.at)
(Schluss) snu/gu